Justizreform bei der EU

13.9.2024

Mit VO (EU, EURATOM) 2024/2019 des EP und des Rates zur Änderung des Protokolls Nr. 3 über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union (ABl. L 2024/2019 v. 12.8.2024) wurde eine bedeutende Justizreform bei der EU durchgeführt: Der neue Art. 50b Prot. Nr. 3 überträgt auf der Grundlage des Art. 267 AEUV die Zuständigkeit für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen in einigen besonderen Sachgebieten vom EuGH auf das EuG, und zwar für das 

  • gemeinsame Mehrwertsteuersystem,
  • Verbrauchsteuern,
  • den Zollkodex der Union
  • die zolltarifliche Einreihung von Waren in KN,
  • Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Flug- und Fahrgäste im Fall der Nichtbeförderung, bei Verspätung oder bei Annullierung von Transportleistungen und 
  • das System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten. 

Ungeachtet dessen bleibt der Gerichtshof in den genannten Sachgebieten für Vorabentscheidungsersuchen zuständig, die eigenständige Fragen der Auslegung des Primärrechts, des Völkerrechts, der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts oder der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufwerfen. Die exklusiven Fälle behält sich also der EuGH vor! Jedes Vorabentscheidungsersuchen wird dem Gerichtshof vorgelegt, der so schnell wie möglich und gem. den in seiner Verfahrensordnung vorgesehenen Modalitäten feststellt, wessen Zuständigkeit begründet wird. Die Vorabentscheidungsersuchen, über die das Gericht entscheidet, werden gem. den in seiner Verfahrensordnung vorgesehenen Modalitäten Kammern zugewiesen, die zu diesem Zweck bestimmt werden. Eine „feine“ Art, wie sich der EuGH von unliebsamen Ballast getrennt hat! Gerade die Zolltariffälle wurden dort schon immer als unangenehm angesehen. 

Weitere Neuerungen: Schriftsätze und schriftliche Erklärungen eines in dem geänderten Art. 23 (Vorabentscheidungsersuchen) bezeichneten Beteiligten (Parteien, Mitgliedstaaten, EP, Rat, Kommission, EZB, betroffenes Organ)  werden künftig innerhalb einer angemessenen Frist nach Abschluss des Verfahrens auf der Website des Gerichtshofs veröffentlicht, sofern der Beteiligte nicht widerspricht. Das EuG wird bei der Behandlung der ihm nach Art. 50b weitergeleiteten Vorabentscheidungsersuchen von einem oder mehreren Generalanwälten unterstützt, die von den Richtern aus der Mitte des Gerichts für einen Zeitraum von drei Jahren (einmalige Wiederwahl zulässig) gewählt werden (neuer Art. 49a). Für jedes Vorabentscheidungsersuchen wird der Generalanwalt aus der Mitte der für die Ausübung dieser Tätigkeit gewählten Richter ausgewählt, die einer anderen Kammer als der Kammer angehören, der das betreffende Ersuchen zugewiesen worden ist. Die Justizreform tritt am 1.9.2024 in Kraft. Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, die am ersten Tag des Monats nach Inkrafttreten dieser VO (also 1.10.) beim Gerichtshof anhängig sind, werden weiter vom Gerichtshof behandelt. Bis zum 2.9.2025 veröffentlicht der Gerichtshof eine Liste von Beispielen für die Anwendung von Art. 50b der Satzung und aktualisiert diese regelmäßig. 

Der EuGH hat seine Verfahrensordnung mit Wirkung ab 1.9.2024 an die Vorgaben der geänderten Satzung angepasst (ABl. L 2024/2094 v. 12.8.2024): u.a. neuer Art. 93a (Vorprüfung der Vorabentscheidungsersuchen), neue Art. 114a und 114b (Verfahren nach Verweisung), und darüber hinaus u.a. die Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung per Videokonferenz (geänderter Art. 78) und die Übertragung öffentlicher Sitzungen (neuer Art. 80a) ermöglicht und die Anonymisierung persönlicher Daten weiter erleichtert (geänderter Art. 95). Unbedingt zu empfehlen sind für Kanzleien, die häufig mit dem EuGH zu tun haben, und für andere mögliche Beteiligte (z.B. vorlegende Gerichte) die neuen Praktischen Anweisungen für die Parteien in den Rechtssachen vor dem Gerichtshof, die zum 1.9.2024 in Kraft getreten sind und die bisherigen Praktischen Anweisungen v. 10.12.2019 ersetzen (ABl. L 2024/2173 v. 30.8.2024).

Das EuG seinerseits hat seine Verfahrensordnung, zuletzt ber. im ABl. L 2024/90478 v. 5.8.2024, zum 1.9.2024 umfassend geändert, indem es die Vorgaben der Satzung und der Verfahrensordnung des EuGH in einer ganzen Reihe neuer Verfahrensvorschriften umgesetzt hat (ABl. L 2024/2095 v. 12.8.2024). Ergänzt wird die Verfahrensordnung auch hier durch Praktische Durchführungsbestimmungen zur Verfahrensordnung des Gerichts (ABl. L 2024/2097 v. 12.8.2024). Hier ist insb. darauf hinzuweisen, dass Verfahrensschriftstücke und die dazugehörigen Anlagen, vorbehaltlich weniger Ausnahmen, zwingend ausschließlich auf elektronischem Weg unter Nutzung der Anwendung von e-Curia einzureichen sind. Mit Beschl. des EuG v. 10.7.2024 über die Einreichung und die Zustellung von Verfahrensschriftstücken im Wege der Anwendung e-Curia (ABl. L 2024/2096 v. 12.8.2024) sind i.Ü. die entsprechenden Vorschriften zu e-Curia zum 1.9.2024 neu gefasst worden. Angesichts all dieser Änderungen kann den Beteiligten an Rechtsstreiten vor den EU-Gerichten nur empfohlen werden, sich die neuen Vorschriften zu besorgen und genau zu beachten, damit sie keine bösen Überraschungen erleben!                

KPME


Verlag C.F. Müller

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